Myofunktionelle Therapie
Die myofunktionelle Therapie (MFT; Synonym: orofaziale Muskelfunktionstherapie) ist eine funktionelle Therapieform zur Rehabilitation und Regulation der orofazialen Muskulatur, die insbesondere in der Kieferorthopädie, Logopädie und Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie als unterstützende Maßnahme eingesetzt wird. Ziel ist es, durch gezielte Muskelstimulation und Umtrainierung eine Harmonisierung der muskulären Funktionsketten im orofazialen Bereich zu erreichen, um Zahnstellungs- und Bisslageanomalien positiv zu beeinflussen.
Die MFT wurde in den 1960er Jahren von Garliner entwickelt und war ursprünglich eine strukturierte Übungsbehandlung. Heute existieren zahlreiche evidenzbasierte Therapieansätze, die sowohl bei Kindern als auch Erwachsenen Anwendung finden.
Pathophysiologische Grundlagen
Die orofaziale Muskulatur steht unter der Steuerung verschiedener neurophysiologischer Systeme:
- Trigeminusnerv (N. trigeminus, V) – Innervation der Kaumuskulatur
- Fazialisnerv (N. facialis, VII) – Steuerung der mimischen Muskulatur
- Hypoglossusnerv (N. hypoglossus, XII) – Kontrolle der Zungenbewegungen
Eine dysfunktionale Ansteuerung oder muskuläre Dysbalancen innerhalb dieses Systems können zu folgenden Fehlentwicklungen führen:
- Dysgnathien (Kieferfehlstellungen, z. B. Klasse II oder III nach Angle)
- Falsches Schluckmuster (viszerales Schlucken) mit anhaltendem Zungenpressen
- Habits (orofaziale Dyskinesien), wie persistierendes Daumenlutschen oder Lippenpressen
- Malokklusionen, insbesondere offener Biss, Distalbiss, Progenie (Fehlbiss, bei der ein unphysiologischer Überbiss der unteren über die oberen Schneidezähne besteht) oder Kreuzbiss
- Respiratorische Dysfunktionen, insbesondere chronische Mundatmung
Indikationen (Anwendungsgebiete)
Die myofunktionelle Therapie wird primär als begleitende kieferorthopädische Therapie eingesetzt. Indikationen sind:
- Dysgnathien (Klasse I-III nach Angle, vertikale und transversale Fehlstellungen)
- Myofunktionelle Störungen
- Zungenfehlfunktionen (Zungenpressen, interdentaler Sigmatismus/Zwischenzahnlispeln)
- Habits (Daumenlutschen, Lippenbeißen, Zungenstoß gegen die Frontzähne)
- Persistierendes viszerales Schlucken
- Orofaziale Dyskinesien (atypische Bewegungsmuster der Lippen, Wangen und Zunge)
- Mundatmung mit unzureichendem Lippenschluss
- Artikulationsstörungen (Sigmatismus interdentalis, Schetismus)
- Temporomandibuläre Dysfunktion (TMD, craniomandibuläre Dysfunktion, CMD) mit Gesichtsschmerz und Bruxismus (Zähneknirschen)
- Posttherapeutische Stabilisation nach kieferorthopädischer Behandlung, um ein Rezidiv (Wiederauftreten der Erkrankung) zu vermeiden
Kontraindikationen (Gegenanzeigen)
Die MFT ist nicht indiziert bei:
- Schweren neuromuskulären Erkrankungen (z. B. spastische Zerebralparese, Myopathien, progressive Muskeldystrophien)
- Schweren Kieferfehlbildungen, die primär chirurgisch korrigiert werden müssen
- Fehlender Compliance der Patienten (insbesondere bei Kleinkindern ohne kognitive Reife)
- Schwere Dysphagien mit Aspirationsgefahr, bei denen eine logopädische Intervention notwendig ist
- Ankyloglossie (Zungenbandverkürzung), wenn chirurgische Therapie indiziert ist
Therapeutische Konzepte nach Altersstufen
Die Therapieansätze sind altersabhängig und an den individuellen Entwicklungsstand angepasst:
1. Frühkindliche Therapie (0-3 Jahre)
- Frühintervention bei orofazialen Funktionsstörungen, d. h. motorische und/oder sensorische Auffälligkeiten der Muskelfunktionen im Mund-Gesichts-Bereich, die von der normalen (physiologischen) Entwicklung abweichen
- Umstellung von Mund- auf Nasenatmung
- Saug- und Schlucktraining bei Trink- und Essstörungen
2. Vorschulalter (3-6 Jahre)
- Abgewöhnung von Habits (Daumenlutschen, Lippenpressen)
- Verbesserung der Zungenlage
- Schulung der Mundatmung und Lippenfunktion
- Anbahnung der korrekten Artikulation (Schlussbiss)
3. Schulalter (6-12 Jahre)
- Spezielles Schlucktraining und Automatisierung des somatischen Schluckmusters
- Artikulationsübungen zur Vermeidung von Sigmatismus
- Atemübungen zur Stärkung der Nasenatmung
- Training der mimischen Muskulatur zur Normalisierung des Muskeltonus
4. Erwachsene
- Korrektur persistierender myofunktioneller Störungen
- Behandlung bei temporomandibulärer Dysfunktion (CMD)
- Begleitende Therapie nach kieferorthopädischen oder chirurgischen Eingriffen
- Rezidivprophylaxe nach kieferorthopädischer Behandlung
Therapeutische Verfahren und Hilfsmittel
Die MFT besteht aus Übungen zur Kräftigung, Dehnung und Koordination der orofazialen Muskulatur.
Wichtige Therapiemaßnahmen:
- Zungenübungen zur Kräftigung und Positionierung (z. B. Training mit Zungenspateln oder Biofeedback-Geräten)
- Lippen- und Wangenübungen zur Verbesserung des Muskeltonus
- Schlucktraining mit Fokus auf das somatische Schluckmuster
- Atemtherapie zur Stärkung der Nasenatmung
- Artikulationsübungen zur Normalisierung der Lautbildung
Unterstützende Apparaturen:
- Mundvorhofplatte (MVP)
- Passive Kräftigung der Lippen- und Wangenmuskulatur
- Beeinflussung der Zungenlage durch bewegliche Perlen oder Zungengitter
- Myofunktionelle Trainer (z. B. Myobrace®, FaceFormer®)
- Verbesserung der Muskelkoordination
- Stimulierung der korrekten Kiefer- und Zungenstellung
Evidenz und Langzeitergebnisse
Meta-Analysen zeigen, dass eine myofunktionelle Therapie als adjuvante Maßnahme bei Dysgnathien wirksam ist, insbesondere:
- Verbesserung der myofunktionellen Balance bei Klasse-II-Dysgnathien
- Reduktion der Rezidivrate nach kieferorthopädischer Behandlung
- Unterstützung der korrekten Zungenlage und Lippenfunktion
Literatur
- Diedrich P (2000). Kieferorthopädie I-III (1. Aufl.). Elsevier, München / Urban & Fischer.
- Bigenzahn W: Orofaziale Dysfunktionen im Kindesalter: Grundlagen, Klinik, Ätiologie, Diagnostik und Therapie. Georg Thieme Verlag, Stuttgart 2002
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- Raiman J (Hrsg): Kieferorthopädie. Zahnärztliche Fachliteratur für die Patientenberatung. All Dente Verlag 2006
- Sander FG, Schwenzer N, Ehrenfeld M, Ahlers MO, Bantleon HP. (2011). Kieferorthopädie (2., neu erstelle und erweiterte Aufl.). Thieme Verlag.
- Weber T (2017). Memorix Zahnmedizin (5. unveränderte Aufl.). Thieme Verlag.