Dentales Trauma
Zahnverletzungen
Immer wieder kommt es im Rahmen von Stürzen, Unfällen oder auch durch Gewalteinwirkung von außen zur Verletzung von Zähnen. Gerade Kinder stürzen häufig, ob bei den ersten Gehversuchen, beim Toben oder Radfahren.
Beim dentalen Trauma – umgangssprachlich Zahnverletzung genannt – unterscheidet man die reine Verletzung der Zahnhartsubstanz von einer Verletzung, die auch den Zahnhalteapparat mit einbezieht. Des Weiteren können dabei Weichteilverletzungen auftreten, die mit Blutungen aus dem Mund einhergehen.
Synonyme und ICD-10: ICD-10-GM S09.-: Sonstige und nicht näher bezeichnete Verletzungen des Kopfes
Im Milchzahngebiss sind meist die mittleren, oberen Schneidezähne betroffen. Nur selten werden die unteren Schneidezähne, Eckzähne und Molaren (Mahlzähne, dabei handelt es sich um große, mehrhöckrige Backenzähne im Seitenzahnbereich) geschädigt.
Im permanenten Gebiss finden sich am häufigsten Kronenfrakturen auf.
Bei Null- bis Sechsjährigen treten Milchzahntraumen mit einer Häufigkeit von 11-30 % bzw. mit ca. 50 % auf.
Die Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) des dentalen Traumas liegt bei nahezu allen Altersgruppen bei bis zu 30 % (in Deutschland).
Symptome – Beschwerden
Folgende Symptome und Beschwerden können nach Zahnverletzungen auftreten:
Leitsymptome
Diese Leitsymptome lenken den Verdacht auf ein dentales Trauma und werden oft zuerst bemerkt:
- Schmerzen: Treten bei etwa 70-80 % der Betroffenen unmittelbar nach der Verletzung auf
- Aufbissempfindlichkeit: Wird von ca. 60-70 % der Betroffenen berichtet, besonders bei Frakturen oder Wurzelbeteiligung
- Temperaturempfindlichkeit: Bei ca. 50 % der Betroffenen, oft bei Schmelzrissen oder Zahnnervschäden
Hauptsymptome (primäre Symptome)
Diese Hauptsymptome prägen das klinische Bild eines dentalen Traumas:
- Perkussionsempfindlichkeit (Klopfempfindlichkeit): Tritt bei etwa 60-70 % der Fälle auf, besonders bei Wurzelbeteiligung oder Luxationsverletzungen
- Erhöhte Zahnbeweglichkeit: Beobachtet bei ca. 40-50 % der Betroffenen, besonders bei Luxationen oder Frakturen des Zahnhalteapparats
Begleitsymptome (sekundäre Symptome)
Diese Begleitsymptome sind weniger charakteristisch und können auf Komplikationen hinweisen:
- Blutungen: Treten bei ca. 30-40 % der Betroffenen auf, besonders bei Weichteilverletzungen oder Frakturen
- Zahn ist intrudiert (kürzer): Tritt bei ca. 10-15 % der Luxationsverletzungen auf
- Zahn ist extrudiert (länger): Beobachtet bei ca. 5-10 % der Luxationsverletzungen
Bei einer Verletzung der Zahnhartsubstanz (Oberbegriff für Zahnschmelz, Dentin (Zahnbein) und Wurzelzement) verbleibt der Zahn in seinem Knochenfach, der sogenannten Alveole.
Frakturen der Zahnhartsubstanz werden in drei Bereiche unterteilt: Kronen-, Kronenwurzel- und Wurzelfrakturen. Dabei befindet sich der betroffene Zahn zumeist noch in seinem Knochenfach.
Es gibt jedoch auch zahlreiche Verletzungen, bei denen der Zahn aus seiner Alveole heraus- oder hineingedrückt wird, wodurch der Zahn verlagert wird oder gänzlich verloren geht.
Von einer Subluxation spricht man, wenn der betroffene Zahn gelockert ist.
Wird der Zahn durch eine Verletzung verlagert, liegt er nicht mehr korrekt in seiner Alveole. Hierbei werden die laterale Luxation (seitliche Verlagerung) sowie die Intrusion (Verlagerung des Zahns nach innen) und die Extrusion (Verlagerung des Zahns nach außen) unterschieden. Fällt ein Zahn im Rahmen einer Verletzung aus, wird dies als Totalluxation bezeichnet.
Anamnese (Krankengeschichte)
Kinder mit einem akuten Zahntrauma gelten als Notfallpatienten.
Schwere Begleitverletzungen und ein Schädel-Hirn-Trauma (SHT) sind auszuschließen. Tetanusschutz muss überprüft werden – gegebenenfalls muss eine Auffrischimpfung erfolgen.
Idealerweise bringt der Patient den komplett herausgeschlagenen Zahn in einer Zahnrettungsbox.
Zu dokumentieren sind die Unfalldaten: Unfallort, Unfallzeitpunkt, Unfallhergang.
Eine allgemeinmedizinische Anamnese ist zu erheben: Gerinnungsstörung?, Immunschwäche? und Dauermedikation?
Pathogenese (Krankheitsentstehung) – Ätiologie (Ursachen)
- Ursachen: Stürze, Gewalteinwirkung, Unfälle (z. B. Schädel-Hirn-Trauma).
Folgeerkrankungen
- Pulpentod (abgestorbene Pula/Zahnmark), Wurzelkanalobliteration (Wurzelkanalverschlüsse), Resorptionen.
- Notwendigkeit der Extraktion bei Wurzelfrakturen (Zahnentfernung bei Wurzelbrüchen).
- Ankylose (Gelenksteife) bei Totalluxationen.
- Posttraumatische Verfärbungen der klinischen Krone.
Zähne können nach einem Trauma so stark geschädigt sein, dass es zum Absterben der Pulpa (des Zahnnerven) kommt, was eine endodontische Therapie (Durchheilung von Wurzelkanälen) nach sich zieht. Ebenso können Wurzelkanalobliteration (Wurzelkanalverschlüsse) sowie interne oder externe Resorptionen an den betroffenen Zähnen auftreten.
Bei Frakturen im mittleren Wurzeldrittel muss der betroffene Zahn in der Regel extrahiert werden, sodass eine versorgungsbedürftige Lücke in der Zahnreihe entsteht.
Wird ein Zahn nach einer Totalluxation wieder eingesetzt, kann es zur Ausbildung einer Ankylose (der Zahn verwächst mit dem Knochen und verliert seine Eigenbeweglichkeit) kommen.
Des Weiteren können nach einem Zahntrauma posttraumatische Verfärbungen der klinischen Krone kommen. Zu beobachten sind graue, rötliche oder gelbliche Farbveränderungen. Zur Therapie derselben können Keramik- oder Kompositveneers verwendet werden.
Diagnostik
- Untersuchung von Weichteilverletzungen und Zahnlockerung.
- Röntgendiagnostik (Zahnfilme, Panoramaschichtaufnahme, eventuell CT/MRT).
- Überprüfung der Vitalität des Zahns.
Der erste Blick gilt den Weichteilverletzungen. Dabei sind penetrierende Verletzungen vorrangig nachfolgend zu behandeln.
Eine mögliche Zahnlockerung wird palpatorisch (abtasten) überprüft.
Bei Verdacht auf eine Fraktur eines oder mehrerer Zähne ist die Röntgendiagnostik unumgänglich. Ein Zahnfilm gibt Aufschluss über Lage und Ausmaß von Frakturen einzelner Zähne. Nach Stürzen, Unfällen oder Gewalteinwirkung sollte jedoch mitunter auch eine Panoramaschichtaufnahme angefertigt werden, um eventuell vorhandene Frakturen im Bereich des Unterkiefers oder des Kiefergelenkes ausschließen zu können.
Eine negative Vitalitätsprobe nach einem Trauma ist nicht zwingend eine Indikation zur Wurzelkanalbehandlung, da auch Wochen bis Monate nach einem Trauma die Sensibilität zurückkehren kann. Ist dies nicht der Fall oder treten Beschwerden auf, die eine Wurzelkanalbehandlung nötig machen, so ist diese durchzuführen.
Prävention
- Frühzeitige kieferorthopädische Behandlung im Alter von sieben bis zwölf Jahren bei Patienten mit Risikofaktoren
- Tragen eines Sportmundschutzes
Therapie
- Vitalerhaltung der Pulpa (Zahnmark), insbesondere bei Zähnen mit unvollständigem Wurzelwachstum.
- Aufbewahrung ausgeschlagener Zähne in isotonischer Kochsalzlösung oder Milch.
- Schmerzausschaltung und Priorisierung penetrierender Verletzungen.
- Therapieoptionen variieren je nach Art der Verletzung.
- Kunststoffaufbau bei Kronenfrakturen (Kronenbrüchen).
- Wurzelkanalbehandlung oder partielle Pulpotomie (Entfernung eines Teils der Zahnpulpa eines Zahns) bei Pulpabeteiligung.
- Reposition und Schienung bei Luxationen.
- Kieferorthopädische Maßnahmen bei Intrusionen (Verlagerung eines Zahns in den Alveolarknochen/Knochenanteil des Ober- oder Unterkiefers).
Fällt ein Zahn aus, so gibt es einige Regeln zu beachten, um das Wiedereinsetzen des Zahns zu ermöglichen beziehungsweise die Erfolgsaussichten deutlich zu erhöhen.
Folgendes sollte getan werden: Zahnfragmente oder ganz herausgeschlagene permanente Zähne müssen unverzüglich nach dem Trauma bis zur Therapie in isotonischer Kochsalzlösung gelagert werden. Ideal dafür sind kommerziell erhältliche Zahnrettungsdosen.
Der beste Ort, um einen ausgeschlagenen Zahn zu transportieren, ist die Mundhöhle. Dies ist jedoch bei kleinen Kindern nicht realisierbar aufgrund der Gefahr des Verschluckens oder gar der Aspiration des Zahns.
In diesen Fällen sollte der Zahn feucht gehalten werden; empfohlen wird der Transport in etwas Milch. Wer sichergehen will, den Zahn richtig aufzubewahren, kann – wie oben bereits erwähnt – auf die Zahnrettungsbox zurückgreifen.
Ebenso ist es wichtig, den Zahn auf keinen Fall selbst zu reinigen, egal, wie schmutzig er mitunter erscheint. Bei der Reinigung wird die empfindliche Wurzelhaut zerstört, die zum Wiedereinheilen des Zahns unbedingt notwendig ist. Daher gilt: Zahn feucht halten und schnellstmöglich eine kieferchirurgische Praxis oder Klinik aufsuchen. Dort wird der Zahn fachgerecht gereinigt und, sofern dies möglich ist, wieder eingesetzt.
Bei der nachfolgenden Therapie ist auf eine effektive Schmerzausschaltung zu achten.
Soweit penetrierende Verletzungen vorliegen, müssen diese vorrangig versorgt werden. Dabei ist darauf zu achten, dass keine Zahnfragmente oder Fremdkörper in der Wunde verbleiben.
Milchzähne
Die Therapie von verletzten Milchzähnen sollte unter Beachtung von Aufwand und Nutzen durchgeführt werden. Vorrang hat in diesen Fällen die Schmerzausschaltung. Des Weiteren gilt die Sorge der regelrechten Weiterentwicklung des Keims des nachfolgenden Zahns.
Permanente Zähne
Bei der Verletzung permanenter Zähne zielt die Behandlung auf den Vitalerhalt von Pulpa (Zahnmark) und Zahnhalteapparat.
Bei Zähnen mit offenem Wurzelwachstum wird die Revitalisierung als Alternativtherapie zur Apexifikation eingeführt.
Hinweis: Unter Apexifikation versteht man ein Verfahren in der Zahnmedizin, mit dem ein apikal offener Wurzelkanal vor der eigentlichen Wurzelkanalfüllung verschlossen wird.
Die Therapie einer Zahnhartsubstanzfraktur richtet sich immer nach der genauen Lokalisation der Verletzung. Ist lediglich etwas Zahnschmelz abgebrochen, so kann der Zahn mittels Kunststoff wieder aufgebaut werden.
Ist auch das Dentin (Zahnbein) von der Fraktur betroffen, so muss die Dentinwunde mit einem Calciumhydroxid-Präparat versorgt werden.
Bei einer Eröffnung der Pulpa (Zahnnerv) kann je nach Größe der Wunde versucht werden, den Zahn vital zu erhalten. Ist dies jedoch nicht möglich, so muss der Zahn wurzelkanalbehandelt werden.
Bei Kronenfrakturen (Abbrechen von Teilen der Zahnkrone) mit Pulpabeteiligung ist die partielle Pulpotomie (Entfernung eines Teils der Zahnpulpa) das favorisierte Therapieverfahren.
Bricht die Wurzel eines Zahns, so kann bei einer Fraktur im oberen oder unteren Wurzeldrittel versucht werden, den Zahn zu erhalten. Ist die Zahnwurzel mittig gebrochen, so muss der Zahn in der Regel extrahiert werden.
Beachte: Bei Kronen-Wurzel-Frakturen ist die adhäsive Fragmentbefestigung schwieriger durchzuführen.
Liegt eine Subluxation vor, empfiehlt es sich, den Zahn für ein bis zwei Wochen ruhigzustellen und zunächst auf eine besonders weiche Kost zu achten, um den gelockerten Zahn nicht unnötig zu belasten und ein Wiedereinheilen zu ermöglichen.
Ein verlagerter Zahn wird zunächst reponiert, das bedeutet, er wird wieder in seine richtige Position gebracht. Anschließend erfolgt eine Schienung des Zahns, um ein Einheilen zu ermöglichen. Weiche Kost und Nichtbelastung des Zahns tragen ebenfalls zum Erfolg der Therapie bei.
Zähne, die intrudiert, also nach innen verlagert sind, können sich, sofern das Wurzelwachstum bisher nicht abgeschlossen ist, spontan wieder zurückstellen. Bei Zähnen mit bereits vollendetem Wurzelwachstum muss jedoch eine kieferorthopädische Extrusion – Verlagerung des Zahns nach außen – erfolgen.
Literatur
- Gutwald R, Gellrich NC, Schmelzeisen R: Einführung in die zahnärztliche Chirurgie. 1. Aufl. Urban & Fischer Verlag; München/Jena 2003
- Ott R, Vollmer HP, Krug W: Klinik- und Praxisführer Zahnmedizin. Georg Thieme Verlag, Stuttgart 2003
- Weber T. (2017). Memorix Zahnmedizin (5. unveränderte Aufl.). Thieme Verlag.
Leitlinien
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S2k-Leitlinie: Therapie des dentalen Traumas bleibender Zähne.. (AWMF-Registernummer: 083 - 004), März 2022 Langfassung