Kieferorthopädische Frühbehandlung
Von kieferorthopädischer Frühbehandlung spricht man, wenn Behandlungsmaßnahmen zur Verhütung oder Beseitigung von Gebiss schädigenden Angewohnheiten (Habits, orofazialen Dyskinesien) oder bei Anomalien der Zähne bzw. der Kiefer im Alter vor dem 9. Lebensjahr ergriffen werden müssen.
Nur selten ist es erforderlich, eine Behandlung vor dem 4. Lebensjahr zu beginnen. Die Frühbehandlung legt ihren Schwerpunkt auf das Abgewöhnen von Habits, weil dadurch spätere kieferorthopädische Maßnahmen unter Umständen überflüssig werden. Allen Habits ist gemeinsam, dass sie sich sowohl auf die Zahnstellung als auch auf die Entwicklung des Ober- und Unterkiefers sowie deren Lagebeziehung auswirken können.
Sollte das Abgewöhnen des Habits nicht mehr ausreichen, um den Einfluss auf Zähne und Kiefer rückgängig zu machen, so werden auch frühe Behandlungsmaßnahmen mit kieferorthopädischen Apparaturen notwendig.
Bei Lippen-Kiefer-Gaumenspalten oder anderen, extremen Anomalien des Gesichtsschädels liegt der apparative Behandlungsbeginn schon im Säuglingsalter. Sie werden im Folgenden nicht weiter erörtert.
Indikationen (Anwendungsgebiete)
I. Eine Frühbehandlung zum Abstellen von Habits gehört zu den häufigsten Maßnahmen. Zu den schädigenden Angewohnheiten werden gezählt:
- Lutschen: Daumen und andere Finger wirken wie ein kieferorthopädisches Gerät im Mund. Oberkieferschneidezähne bekommen Druck nach labial (vorne), verändern ihre Position und ziehen den vorderen Bereich des Oberkiefers mit. Die unteren Schneidezähne können entsprechend nach oral (Richtung Mundhöhle) kippen. Mit ihnen zusammen weicht der Unterkiefer in seiner Position nach (dorsal) hinten aus und wird gleichzeitig im Wachstum gehemmt. Ein sogenannter lutschoffener Biss kann sich entwickeln, bei dem obere und untere Schneidezähne keinen Kontakt mehr zueinander haben und sich die Zunge zwischen die Zahnreihen nach vorn lagern kann.
- Schnuller: wirken ähnlich wie das Lutschen, haben aber den kleinen Vorteil, dass sie sich leichter und früher abtrainieren lassen
- falsches Schluckmuster: beim sogenannten viszeralen Schlucken wird die Zunge bei jedem Schluckvorgang gegen die Schneidezähne gepresst, anstatt sich, wie beim sogenannten somatischen Schlucken, dem Gaumen anzulagern. In der Folge weichen die oberen und unteren Schneidezähne nach labial (vorn) aus.
- Wangenbeißen und -saugen: die Zähne werden auf der entsprechenden Seite in ihrem Längenwachstum gehemmt, die Kiefer können sich durch die auf eine Seite ausgerichtete Muskelbewegung seitenungleich entwickeln
- Einlagern der Unterlippe: entweder Folge des Lutschens oder eigenständiges Habit: ähnlich wie beim Lutschen weichen obere und untere Schneidezähne aus, das Unterkieferwachstum wird gehemmt, der Unterkiefer rückverlagert
- Lippensaugen, -pressen, -beißen: die oberen Schneidezähne bekommen Druck von labial (von der Lippe aus) und reagieren mit Kippung nach oral (zur Mundhöhle hin), wenn bislang nicht alle Schneidezähne durchgebrochen sind, was wiederum ein Durchbruchshindernis für die noch folgenden Schneidezähnen bedeuten kann; außerdem gerät der Unterkiefer in eine durch den Steilstand der oberen Schneidezähne bedingte Zwangsrücklage
- Sprechstörungen wie z. B. linguale Sigmatismen (zungenbedingte s-Lautfehlbildungen): Sigmatismus interdentalis (Zwischenzahnlispeln), addentalis (Anstoßen an die Schneidezähne) und lateralis (Seitwärtslispeln); auch labiodentale (lippenfunktionsbedingte) Sigmatismen wirken sich über die Fehlfunktion der Muskulatur auf das Gebisssystem aus
- Habituelle (gewohnheitsbedingte) Mundatmung; diese ist zu unterscheiden von der Mundatmung bei anatomisch gestörter Nasenatmung; in der Folge kann es allerdings auch zur Behinderung der Nasenatmung kommen, da die Nase weniger Wachstumsanreiz ausgesetzt ist
- Kauen an Fingernägeln, Stiften u. a.: wirkt sich ähnlich wie Lutschen aus
II. Eine Frühbehandlung mithilfe von kieferorthopädischen Apparaturen wird erforderlich, wenn die schädigenden Angewohnheiten schon bleibende Spuren hinterlassen haben oder wenn beispielsweise folgende Dysgnathien (Kieferfehlentwicklungen) ohne Einfluss eines Habits vorliegen:
- umgekehrter Frontzahnüberbiss (positive Frontzahnstufe, Unterkiefervorbiss); kann zahnbedingt sein, aber auch durch das Missverhältnis zwischen einem sich zu wenig entwickelnden Oberkiefer bei normaler Unterkieferentwicklung oder zu großem Unterkiefer bei normalem Oberkieferwachstum
- Zwangslage des Unterkiefers durch seitlichen Kreuzbiss (umgekehrte Verzahnung im Seitenzahnbereich)
- starke Unterkiefer-Rückverlagerung: durch maxilläre Mikrognathie (Oberkiefer zu klein) oder mandibuläre Makrognathie (Unterkiefer zu groß); in der Folge wird die Unterlippe zwischen den Schneidezähnen eingelagert, was zur Verstärkung der Anomalie führt
- durch Kippung der oberen Schneidezähne nach oral (zur Mundhöhle hin)
- Einbruch der Stützzonen durch frühen Verlust der seitlichen Milchzähne
- überzählige Zähne
- Unfälle
Die Verfahren
I. Abstellen von Habits
Habits sollten möglichst frühzeitig abgestellt werden, um die Auswirkungen auf das orofaziale System so gering wie möglich zu halten und ein spätere kieferorthopädische Behandlung möglichst vermeiden zu können.
1. Maßnahmen gegen das Lutschen an Daumen und anderen Fingern sollten daher spätestens im 4. Lebensjahr Erfolg zeigen. Hilfreich sind dabei z. B. folgende Vorgehensweisen:
- Abgewöhnen des Daumens durch Anbieten eines Beruhigungssaugers
- dieser wiederum kann dann später leichter abtrainiert werden
- in der Apotheke erhältlicher Nagellack mit Bitterstoffen
- vorgefertigte oder individuell hergestellte Mundvorhofplatte: wird in den Mundvorhof (Raum zwischen Lippe und Zähnen) positioniert und hält so den Daumen und seine Wirkung von den Zähnen fern; gleichzeitig werden die oberen Schneidezähne durch den Druck der Platte wieder in ihre Ausgangsposition bewegt
- Lutschkalender und andere Erinnerungshilfen: sollen Erfolgserlebnisse veranschaulichen und dadurch Verhaltensänderung bewirken
2. Maßnahmen gegen falsches Schluckmuster: Beim viszeralen Schlucken werden die Schneidezähne tausendfach täglich falsch ansetzenden muskulären Kräften ausgesetzt. Als frühzeitige Maßnahmen können eingesetzt werden:
- Mundvorhofplatten: konfektioniert oder individuell hergestellt, die passiv mit Zungengitter oder aktiv mit im Gaumenraum positionierten drehbaren Perlen arbeiten, welche die Zunge beim Schlucken in die richtige Lage trainieren sollen
- logopädische Behandlung (Sprach- und Schlucktherapie): gezielte Zungenübungen sollen das fehlgesteuerte Schluckmuster umprogrammieren; dabei ist regelmäßiges häusliches Training unabdingbar.
3. Maßnahmen gegen Mundatmung: die Folgen von habitueller (gewohnheitsbedingter) Mundatmung für das orofaziale System sind weitaus gravierender, als man zunächst vermuten könnte. Durch die fehlende Filter- und Aufwärmwirkung der Nase ist der Patient infektanfälliger, durch mangelnde Lippentätigkeit und zäheren, weil eingetrockneten Speichel zudem kariesanfälliger. Mangelnde Wachstumsreize auf Oberkiefer und Nase und die Rückverlagerung des Unterkiefers bei fast permanenter Mundöffnung wirken sich negativ auf das Kieferwachstum aus. Letztlich besteht auch ein Ungleichgewicht der Muskulatur zwischen Zunge und Lippen, da die Lippen untrainiert sind; die Zähne sind für eine korrekte Zahnstellung aber auf ein Kräftegleichgewicht zwischen innen und außen angewiesen. Folgende Behandlungsversuche sind daher indiziert:
- Mundvorhofplatte: reduziert die Atemmöglichkeit über den Mund, womit sich die Nase als natürliche Alternative wieder vermehrt anbietet
- logopädische Behandlung: zum Training der Lippenmuskulatur und bewusster Verhaltensänderung
4. Maßnahmen gegen Sprechstörungen: logopädische Behandlung
II. Frühbehandlung mit kieferorthopädischen Apparaturen
1. Nach frühzeitigem Milchzahnverlust eingebrochene Stützzonen werden durch Lückenhalter am weiteren Einengen gehindert: Diese sind herausnehmbar oder festsitzend, wobei letzterer die Mundhygiene zwar etwas erschwert, aber eine tägliche Tragezeit von 24 Stunden garantiert.
2. Umgekehrter Frontzahnüberbiss: eine individuell hergestellte sogenannte schiefe Ebene leitet die Zähne in die korrekte Position. Bei unterschiedlichen Wachstumstendenzen in Ober- und Unterkiefer muss der Unterkiefer durch herausnehmbare Plattenapparaturen im Wachstum verhalten, der Oberkiefer gefördert werden.
3. Bei starker Unterkiefer-Rückverlagerung wird der Oberkieferzahnbogen mit einer herausnehmbaren Apparatur transversal (quer verlaufend) erweitert, um dem Unterkiefer Platz zur Vorverlagerung zu bieten.
Literatur
- Diedrich P. (2000). Kieferorthopädie I-III (1. Aufl.). Elsevier, München / Urban & Fischer.
- Böhme G: Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen. Elsevier, Urban & Fischer Verlag 2003
- Knak S. (2003). Praxisleitfaden Kieferorthopädie (1. Aufl.). Elsevier, München / Urban & Fischer.
- Kieferorthopädie. Zahnärztliche Fachliteratur für die Patientenberatung; All Dente Verlag 2006
- Sander FG, Schwenzer N, Ehrenfeld M, Ahlers MO, Bantleon HP. (2011). Kieferorthopädie (2., neu erstelle und erweiterte Aufl.). Thieme Verlag.
- Weber T. (2017). Memorix Zahnmedizin (5. unveränderte Aufl.). Thieme Verlag.